Warten auf Doktor Mitternacht

„Ganz schön dunkel.“

„Mhm.“

„Meinst du, er kommt noch?“

„Er hat es versprochen!“ Im Brustton der Überzeugung.

„Das hat er gestern auch schon. Und vorgestern. Und vorvorgestern.“

„Am Telefon hat er gesagt, er wäre unterwegs.“

„Unterwegs wohin, fragt man sich.“

„Immer bist du so negativ eingestellt! Wenn ich Tierarzt wäre, würde ich jetzt auch nicht mehr kommen wollen, bei deinen negativen Schwingungen.“

Seit einer Woche kampieren die Frau und der Mann nun im Stall und der Lutschi, unser spanisches Mähnenwunder, was eigentlich Lucero heißt, und ich können kein Auge zu tun, weil sich die Frau durch permanentes Reden am Leben erhält. Wenn sie nichts mehr sagt, ist sie wahrscheinlich tot. So jedenfalls meine Theorie.

*

Zuerst habe ich ja gedacht, sie wären obdachlos geworden. Da hab ich mir doch Sorgen um unsere weitere Unterbringung im 5-Sterne-de Luxe-Stall gemacht (mit All you can eat, was das spanische Mähnenwunder sehr wörtlich genommen hat, weshalb es jetzt auf einer nicht essbaren Einstreu steht).

Aber da beide, Mann und Frau, tagsüber nicht da sind, gehen sie hoffentlich weiterhin einer geregelten Erwerbstätigkeit nach, um unseren Unterhalt zu finanzieren. Nein, die Erklärung ist viel einfacher: Wir warten auf den Tierarzt. Das ist so ähnlich wie Warten aufs Christkind, nur dass man nicht weiß, wann er kommt.

Bei dem Wort Tierarzt krieg ich ja normalerweise spontanen Ausschlag, aber im vorliegenden Fall wäre es schön, wenn er endlich mal auftaucht, uns impft und dann wieder verschwindet. Mitsamt der sogenannten Besitzerin und dem Mann. Also die meinetwegen auch impfen oder nicht, aber Hauptsache, die hauen ab. Damit endlich wieder Ruhe einkehrt im Stall. Außerdem hat man uns Möhren und Bananen versprochen und zwei Tage frei. Ich brummele vorwurfsvoll. Der Mann brummelt nicht, der guckt nur leidend. Augen auf bei der Partnerwahl, sag ich da nur.

Jetzt reicht es der Frau. Sie ruft den Tierdoc an. Also würde sie gerne, aber der geht vorsichtshalber nicht dran.

Zeit vergeht. Die Frau redet wie ein Wasserfall. Sogar dem spanischen Mähnenwunder, das ein erstaunlich dickes Fell hat, bluten langsam die Ohren.

Irgendwann später zückt die Frau erneut ihr Handy. Und oh Wunder, der große Meister geht tatsächlich dran und versichert ihr, er wäre unterwegs.

„Siehst du!“, triumphiert sie.

Der Mann guckt skeptisch.

*

Noch mehr Zeit vergeht. Die Stunden fließen ineinander wie Mash, das mit zu viel Wasser angerührt wurde. Das Heu schmeckt nicht mehr, weil uns die Frau gerade mit Schwänken aus ihrer Jugend unterhält und ich Dinge erfahre, die ich nie wissen wollte. Das spanische Mähnenwunder gähnt furchterregend. Der Mann auch. Die Frau startet einen neuen Versuch. Es tutet. Nach einer gefühlten Ewigkeit geht der Tierdoc dran und beteuert, er biege gerade um die Ecke.

„Ja aber um welche?“, fragt der Mann, nachdem eine weitere Stunde ins Land gegangen ist. Danach wurde mir schwindelig und ich muss wohl eingeschlafen sein.

Am nächsten Tag: Mein Kumpel Horsti hat frei, weil er gestern geimpft wurde. Ich nicht. Ungerechtigkeit der Welt! Aber morgen und übermorgen hab ich einen gelben Schein, weil die Frau Horstis Tierarzt für heute bestellt hat. Er wollte vor einer halben Stunde da sein.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Bild: Furchterregendes Gähnen.

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